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Datum : 01.02.1996
Nr.   : 736
Thema : Immunität / Gysi


Gegen Aufhebung der Immunität von Gregor Gysi

Erklärung zur Abstimmung am 1.2.96 im Bundestag Dagmar Enkelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin:

Die Immunität von Abgeordneten ist ein demokratisches Institut, das davor schützen soll, daß vom Volk gewählte Mandatsträgerinnen und Mandatsträger wegen politischer Äußerungen oder politischen Handelns strafrechtlich verfolgt werden. Die Immunität von Abgeordneten ist hingegen kein Privileg gegenüber den Bürgern, das vor einer strafrechtlichen Verfolgung schützt, wenn die unter Strafverdacht stehende Tat nicht politischer Natur ist, kein politisches Handeln darstellt.

Deswegen müßte ein Parlament im ersten Fall die Aufhebung der Immunität ablehnen und im zweiten Fall ihr zustimmen. Das ist der Grundsatz, von dem ich mich leiten lasse, und das ist der Grundsatz, von dem sich meiner Überzeugung nach jede Abgeordnete und jeder Abgeordneter - unabhängig von ihrer bzw. seiner politischen Fraktionszugehörigkeit - leiten lassen sollte.

Es ist eindeutig: Der vorliegende Antrag zu Gregor Gysi betrifft den ersten Fall. Die Aufhebung seiner Immunität kann ich deswegen nur ablehnen.

Nach der für die PDS erfolgreichen Bundestagswahl im Oktober 1994 hat die Finanzverwaltung in Berlin versucht, mittels eines in jeder Hinsicht fragwürdigen Steuerbescheids, die PDS auf administrativem Wege zu beseitigen. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, daß die Forderung über 67 Mio. DM lief, einen Betrag, den die PDS nie und nimmer hätte bezahlen können.

Selbstverständlich ist die Führung der PDS zunächst nur den Rechtsweg gegangen. Es war dann aber eine Situation eingetreten, in der am nächsten Morgen die Vollstreckung des Gesamtbetrages hätte eingeleitet werden können. Diese war mit juristischen Mitteln zunächst nicht mehr aufzuhalten.

Ich frage Sie nun, was erwarten Sie eigentlich von der Führung einer Partei in einer solchen Situation? Sollte sie einfach zusehen, wenn die Partei, die durch Wahlen gerade bestätigt worden ist, über einen solchen Weg liquidiert werden soll?

Für mich ging es nicht nur um die PDS, sondern um die Demokratie in der Gesellschaft überhaupt. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist versucht worden, eine Partei auf diesem Wege auszuschalten, statt sich mit ihr politisch auseinanderzusetzen. Deshalb war der Eingriff für mich verfassungswidrig, denn es war eine versuchte Verletzung des Artikels 21 Grundgesetz. Es gab auch Abgeordnete anderer Fraktionen, die erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken äußerten. Wenn sich Gregor Gysi zusammen mit anderen Persönlichkeiten der PDS in dieser Situation entschieden hat, seinen Protest ebenso unmißverständlich wie gewaltfrei zum Ausdruck zu bringen und deshalb in den Räumen der Unabhängigen Kommission für das Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR beim Bundesinnenministerium in Berlin zu verweilen und einen Hungerstreik durchzuführen, dann kann er meines Erachtens deshalb nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Im Gegenteil: Es müßte gerade durch diesen Bundestag akzeptiert werden, daß er damit einen Beitrag geleistet hat, die Verletzung des Artikels 21 Grundgesetz zu verhindern. Das Grundgesetz akzeptiert in bestimmten Situationen zivilen Ungehorsam.

Sie werden auch berücksichtigen müssen, daß das Verwaltungsgericht in Berlin eine Woche später entschied, daß tatsächlich nicht die PDS für eine eventuelle Steuerforderung haftet und deshalb die Vollstreckung gegen sie unzulässig war.

Aber eine Woche früher sollte die Vollstreckung stattfinden, die mit rechtlichen Mitteln an diesem Tage nicht mehr zu stoppen war. Der Hungerstreik hat dazu geführt, daß das Ganze öffentlich wurde, daß breit darüber diskutiert werden konnte und die Berliner Finanzverwaltung sich beherrschte, indem sie nur einen Teil ihrer angeblichen Forderungen beim Bundestag pfändete und nicht das gesamte Eigentum der Partei einschließlich der materiellen Basis ihrer politischen Tätigkeit.

Damit solche Versuche gegen eine zugelassene und durch Wahlen auf demokratische Art und Weise bestätigte Partei nie wieder unternommen werden, sollte auch der Bundestag ein Zeichen setzen. Dazu würde gehören, den gewaltfreien Protest von Gregor Gysi und anderen zu akzeptieren, ihn als einen Akt zur Erhaltung der Rechtsordnung und der demokratischen Strukturen der Bundesrepublik anzusehen und deshalb der Aufhebung seiner Immunität nicht zuzustimmen.

Die Immunität hat ja gerade den Zweck, die Strafverfolgung für politisches Handeln zu verhindern. Und bevor Sie Gregor Gysi wegen seines gewaltfreien Protestes der Strafverfolgung aussetzen, sollten Sie sich auch noch überlegen, was Sie möglicherweise in einer solchen Situation zugunsten Ihrer Partei und des Grundgesetzes getan hätten.

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