(erschienen in Junge Welt, 13. Juni 1994)

Staatsnähe und Rente

Fast zeitgleich mit einer Veröffentlichung zur bundesdeutschen Rentenberechnung für einen ehemaligen Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR las ich einen Artikel der »Frankfurter Rundschau« vom 12. April 1958, der mich einmal mehr veranlaßte, über die neudeutschen Wortschöpfungen »Rechtsstaat« und »Unrechtsstaat« nachzudenken.

Dieser mit »der freundliche alte Herr« überschriebene Bericht schildert die blutige Karriere eines der Mordkumpane Freislers, des Oberreichsanwalts Dr. Lautz. Es ist die Karriere eines Mörders im roten Talar, auf dessen Schuldkonto Hunderte Frauen und Männer stehen, der beim Hauptprozeß zum 20. Juli 1944 den 63jährigen Feldmarschall Erwin von Witzleben und seine Mitangeklagten als »ehrvergessene Lumpen« und »gemeine Verbrecher« beschimpfte und auf dessen ausdrückliches Pochen in teuflischer Absicht erstmals der Strick ins prozessuale Spiel gebracht wurde. Lautz ließ es sich nicht nehmen, später der grausamen Hinrichtung dieser aufrechten Männer beizuwohnen. Am Metzgerhaken wurden die Verurteilten wie Schlachtvieh aufgehängt.

Aber Lautz war nicht nur einer der gnadenlosesten juristischen Werkzeuge des deutschen Faschismus. Er war auch ein Vordenker für Rechtskonstruktionen mit dem Ziel, der juristischen Abrechnung mit politischen Gegnern den Anschein von Legalität zu geben. So schlug er nach der Annektion Polens vor, die Gerichte sollten selbst gegen jene Polen tätig werden, die vordem Krieg deutsche Spione angezeigt hätten. Er wollte sie für Handlungen verurteilt sehen, die gegen kein Gesetz verstießen, denn daß die anzeigenden Polen nur im Treueverhältnis zum ihrem Staat und nicht zu dem Staat gestanden haben, der ihr Land annektierte, sah sogar Heinrich Himmler ein. Über solche »formalen« Einwände setzte sich der Jurist Lautz mit dem Hinweis hinweg, »die im Gesetz gelassene Lücke muß durch geeignete Rechtsschöpfungen geschlossen werden, wenn die Taten nach dem gesunden Rechtsempfinden unseres Volkes Strafe verdienen«.

Von den zehn Jahren Gefängnis, zu denen Lautz 1947 im sogenannten Nürnberger Juristenprozeß verurteilt worden war, brauchte er dank der Amerikaner nur sechs zu verbüßen. Danach brachte der Geldbriefträger ihm Monat für Monat seine »wohlverdienten« Ruhestandsbezüge.

In Kenntnis des rücksichtsvollen und fürsorglichen Umgangs der alten Bundesrepublik mit Nazi- und Kriegsverbrechern las ich nun die Rentenberechnung nach bundesdeutschem Recht für einen ehemaligen Hauptmann der NVA, der sich 1954 für den Dienst mit der Waffe entschieden hatte, um seinen Staat vor Leuten wie Lautz, Filbinger, Speidel, Heusinger und wie sie alle heißen zu schützen. Weil die ehemaligen »staatsnahen« DDR-Bürger, wie die von Lautz seinerzeit ins Visier genommenen Polen, nur zu ihrem Staat, der DDR, im Treueverhältnis standen, mußten »die Sieger« ebenfalls erst eine »geeignete Rechtsschöpfung« schaffen, um der bisher einmaligen pauschalen Abstrafung von Gesinnung Hunderttausender Bürger eines ehemals anderen Staates wenigstens den Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu geben.

So wurde in beängstigender Analogie zur zitierten Rechtsauffassung des nazistischen Chefanklägers mit dem Rentenüberleitungsgesetz eine »im Gesetz gelassene Lücke« geschlossen.

Mit der Schaffung eines Renten-Strafrechts für ganze Berufsgruppen der angeschlossenen DDR mißachtet der Rechtsstaat Bundesrepublik Wesen und Sinn des Sozialversicherungsrechts und verletzt gleich in mehrfacher Hinsicht seine Verfassung. Die Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung ist nämlich keineswegs mildtätige Gabe für willfährige Untertanen, die je nach individueller Lebensführung gewährt oder entzogen werden kann. Seit seiner Entstehung soll das Sozialversicherungsrecht Menschen vor elementaren Lebensrisiken schützen und ist nicht da, um Gesetzestreue zu honorieren. Es unterliegt daher keinen sittlichen Normen und ist somit moralisch indifferent.

Wenn der Rechtsstaat sich dennoch über diesen elementaren Grundsatz rigoros hinwegsetzt, dann deshalb, weil es bei der heutigen »Aufarbeitung« weder um Recht noch um Gerechtigkeit, sondern allein darum geht, all jene, die die DDR bewußt getragen haben, an den sozialen Rand zu drängen, zu demütigen und für eine möglichst lange Zeit auszugrenzen. An ihnen soll ein Exempel statuiert werden, dessen Botschaft nur so verstanden werden kann: Seht her, wie den 330000 vom Rentenüberleitungsgesetz betroffenen ehemaligen DDR-Bürgern wird es jedem ergehen, der es noch einmal wagen sollte, eine Alternative zu den kapitalistschen Eigentums- und Machtverhältnissen zu versuchen.

Hans F.

Cottbus