»Rechtsstaatlichkeit«

Aus einem Brief an Egon Krenz

(...) Im Jahre 1964 wurde ein Schmuggler an der deutsch- belgischen Grenze erschossen. Die Aachener Nachrichten berichteten: »Tödlich getroffen durch einen Schuß aus der Dienstwaffe eines Zollbeamten wurde der 38jährige Friedrich Hasselfeld aus Nütheim, der im belgischen Teil von Lichtenbusch eingekauft hatte und mit seinem Moped nicht beim Zollamt vorgefahren war, um die Waren zu verzollen ... Der Mopedfahrer verlangsamte zwar seine Fahrt, fuhr aber in gebückter Haltung an dem Beamten vorbei. Daraufhin gab der Zollbeamte einen Warnschuß ab und aus rund 20 m Entfernung einen gezielten Schuß, der Hasselfeld unterhalb des linken Schulterblattes traf. Der Erschossene, der in Schwerin geboren wurde, war vor einigen Jahren in die Bundesrepublik geflüchtet. (!) Er war Vater von zwei Kindern. Eine Untersuchung der Kleidung und einer Tasche ergaben, daß er eineinhalb Pfund Kaffee, 100 g Tee und 20 Eier eingekauft hatte.«

Dieser Todesfall wurde in den Grenzgebieten diesseits und jenseits heftig diskutiert und führte zu einer Fragestunde im Deutschen Bundestag. Diese Fragestunde ist in vielerlei Hinsicht sehr aufschlußreich. Der Abgeordnete Günther (CDU!) stellte folgende Frage: »Sowohl auf deutscher wie auf belgischer Seite wurden in der Presse Äußerungen belgischer Zollbeamter wiedergegeben, die gesagt haben sollen: >bei uns passiert sowas nicht, daß auf Menschen geschossen wird<. Meine Frage: Ist unser Gesetz bzw. unsere Anordnung strenger als das belgische?«

Der damalige Bundesminister der Finanzen, Dr. Dahlgrün (FDP!), antwortete: »Die Grenzen Deutschlands sehen anders aus als die Grenzen Belgiens. Wir haben sehr schwierige Grenzen! Denken Sie einmal an die Alpen, an den Bayerischen Wald, denken Sie an die Zonengrenze!(!!!) ... Ich darf Sie in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß dieses Gesetz erst im Jahre 1961(!) vom Bundestag einstimmig(!) beschlossen worden ist. Wir müssen das Anhalterecht an der Grenze aufrechterhalten!«

Und was sagten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages dazu? Der Abgeordnete Dr. Mende (FDP) meinte: Die sollen aufhören zu schmuggeln! Der Abgeordnete Dr. Wuermeling (CDU) dazu: »Kein Wort gegen den Schmuggel?« und : Fehlt nur noch ein Antrag auf Schmugglerfürsorge!«

Der damalige Finanzminister Dahlgrün nahm somit »billigend in Kauf« - so die heutigen Vorwürfe in den Prozessen gegen die DDR-Führungskräfte -, daß Menschen erschossen wurden, weil wir andere Grenzen als Belgien haben »...denken Sie an die Zonengrenze!«, und damit »das Anhalterecht an der Grenze aufrechterhalten« werden kann! Die Abgeordneten Mende und Wuermeling - und mit ihnen bestimmt noch viele andere - nahmen ebenso »billigend in Kauf«, daß Menschen, die schmuggelten, erschossen wurden! Als die Debatte im Bundestag erfolgte, ging kein Aufschrei durch die Presselandschaft wegen dieser Äußerungen! Ganz selbstverständlich wurde und wird akzeptiert, daß die Bundesrepublik ein Anhalterecht an der Grenze hat. Übrigens, wie alle anderen Staaten auch! Nach Ansicht der Bonner Politiker und Justizorgane hatte die DDR dieses »Anhalterecht« jedoch nicht. Obwohl die DDR als Staat völkerrechtlich anerkannt war! So ist das also mit dem »Rechtsstaat«!

Im Organ des Bundes der deutschen Zollbeamten »Der Deutsche Zollbeamte« konnte man damals folgendes lesen: »Was aber soll das große Geschrei, besonders in der Presse? ... Der Zollbeamte ist doch kein Hellseher. Vielmehr mußte er annehmen, daß ein Mann, der durch Zuruf und Warnschuß zum Halten aufgefordert worden ist und trotzdem weiterfährt, sich einer besonders schwerwiegenden Grenzverletzung schuldig gemacht hat ... Konnte dieser Mann nicht vielmehr staatsgefährdendes (!) Material bei sich führen...« (...)

Lieber Egon, es gäbe aus meiner Sicht noch vieles anzumerken - auch andere haben dazu eigentlich noch fundierter Stellung bezogen -, aber die Verantwortlichen in Politik und Justiz wollen einfach Rache und sicherstellen, daß nicht noch einmal jemals wieder versucht wird, das kapitalistische System zu beseitigen. (...)

Hubert Bachhofen, Weilburg