Für einen 48-Jährigen hat Peter-Michael Diestel schon eine ansehnliche politische Karriere hinter sich: Er war Generalsekretär einer Partei (DSU), stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister der Letzten DDR-Regierung, CDU-Fraktionschef im Land Brandenburg. Unabhängig von seinem parteipolitischen Werdegang hat das >>Nordlicht<< (geboren in Prora auf Rügen) immer wieder der mit und nach der deutschen Einheit >>gepflegte<< Umgang mit den Ostdeutschen im Allgemeinen und den Stasi-Unterlagen im Besonderen umgetrieben. Jetzt fordert Diestel, dass geschehenes Unrecht rehabilitiert wird. Gabriele Oertel sprach mit dem Rechtsanwalt in seiner Potsdamer Kanzlei.

 

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Neues Deutschland  Sonnabend/Sonntag, 27./28. Mai 2000 Seite 3

>>Ich fordere eine >Salzgitter-Behörde< für ausgegrenzte Ossis<<

Peter-Michael Diestel im ND-Interview über das Stasi-Unterlagengesetz, die Gauck-Behörde und andere Unmöglichkeiten

Sie suchen erneut die öffentliche Auseinandersetzung mit Herrn Gauck und seiner Behörde. Sie können es offenbar nicht lassen?!

Ich pflege keine persönlichen Feindschaften.

Aber dass Sie seit zehn Jahren eine Rechnung mit Herrn Gauck offen haben, steht außer Frage.

Wenn man sieht, wie in diesem Land mit den Stasi-Unterlagen Schindluder getrieben wird, hat man einfach die moralische wie auch die Rechts-Pflicht, dagegen vorzugehen. Das Stasi-Syndrom - das haben meine Recherchen, wie auch die Gleichgesinnter ergeben - forderte inzwischen mehr Todesopfer als die Mauer. 

Ein abenteuerlicher Vergleich.

Ein vergleichbares Problem. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die knapp 300 Mauertoten sind 300 zu viel. Aber es sind inzwischen weitaus mehr, die durch die Stasi-Hysterie ihr Leben gelassen haben.

Das ist belegbar?

Für mich schon. Wir wissen in dieser einen Kanzlei hier in Potsdam allein von fast 30 Selbstmorden unter Mandanten, die den totalen Ansehensverlust und die Ächtung durch die Gesellschaft nicht verkraftet haben. Menschen, die nach riesengroßen seelischen Konflikten keinen Ausweg mehr fanden und den Selbstmord fatalerweise als Lösung ihres Problems sahen. Rechnen Sie allein diesen kleinen Wirklichkeitsausschnitt hoch, sind über 300 Todesopfer durchaus schlüssig. Ich möchte, dass die Stasi-Hysterie als gesellschaftliche Unmöglichkeit, als ein gesellschaftlich zu lösender Widerspruch erkannt wird. Und ich möchte, dass der Dichter Jürgen Borchert, der sich erst jüngst - zehn Jahre nach der Wende - wegen Stasi-Vorwürfen in tiefer Verzweiflung das Leben nahm, das letzte Todesopfer infolge eines Bescheides aus der Gauck-Behörde ist.

Aber wie differenzieren Sie? Gibt es nicht auch Menschen, die zumindest allen Grund hätten, sich zu schämen?

In den hunderten Arbeitsrechts-, Verwaltungsrechts- und Zivilrechtsverfahren, in denen ich IMs oder hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter vertreten habe, ist diese Frage nie gestellt worden. Es ist wie früher: Du wirst als gemeingefährlich erklärt, daraufhin verfolgt und ausgegrenzt. Du warst IM und deshalb wirst du geächtet. Und das, obwohl man weiß, dass die Rechtsordung der Bundesrepublik gleichgeartete V- oder Informantendienste - ob beim Verfassungsschutz, beim MAD, BKA oder BND - durchaus vorsieht. Das ist schlichtweg üblich, ob ich das nun gut oder weniger gut finde.

Warum stellen Sie im Falle von Herrn Gauck diese Frage?

Ich mache Herrn Gauck seine Vergangenheit nicht zum Vorwurf. Ich sage nur, hier ist jemand, der eine identische oder womöglich bedenklichere Vergangenheit hat als Menschen, die wegen einer vergleichbaren Berührung mit dem MfS aus dem öffentlichen Dienst oder gar in den Selbstmord getrieben wurden.

Vorsicht, Herr Gauck hat mit einer Klage gedroht...

Herr Gauck hat dies zwar angekündigt, aber bislang nicht getan. Ich würde einen Rechtsstreit als willkommene Möglichkeit sehen. Zum einen, um Gaucks tatsächliche Haltung im Verhältnis zum MfS öffentlich zu beleuchten. Zum anderen, um die längst überfällige Debatte über den Umgang mit Stasi-Unterlagen und die Rolle der Gauck-Behörde voranzutreiben. Aber es gibt von Gauck weder eine Unterlassungsverfügung noch eine Klage. Er windet sich und tönt in der Hoffnung, dass die Medien es abdrucken. Und sie drucken es ab, weil Gauck das Lieblingskind der Medien ist. Keiner bediente sie im Ost-West-Konflikt so gut und willig wie er.

Warum, glauben Sie, ist das so?

Weil das Stasi-Thema als gesellschaftlich notwendig erachtet wurde. Es hätte im Grunde erfunden werden müssen, wenn es das nicht gegeben hätte. Die Stasi-Hysterie war notwendig, um Ostdeutsche von den ihnen angestammten Plätzen zu entfernen. Es hat zur paralysierung der ostdeutschen Intelligenz geführt. Es hat zur Infragestellung ganzer Generationen geführt. Es hat zur Deligitimation ostdeutscher Führungsansprüche geführt. Man hat im Westen gemeint, das wäre notwendig, um den Osten beherrschbar zu machen. Man hat die IM's aufs Schaffott geführt, um mit dem Osten abrechnen zu können. Es ist ein Fehler der CDU und der SPD im Osten gewesen, sich dem anzuschließen.

Soviel zur Gauck-Behörde. Was aber kritisieren Sie an der Person Gauck?

Gauck war zweifelsfrei kein IM, hat aber ebenso zweifelsfrei eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet. Seiner Akte ist zu entnehmen, dass er aus eigenem Antrieb heraus das Gespräch mit der Staatssicherheit gesucht hat. Und Gauck hat nachweislich den Dank das MfS durch Hauptmann Terpe dafür erfahren. Den Begriff Täter oder Opfer gibt es nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht. Aber Herr Gauck ist in klassischer Weise - und diesen Begriff gibt es im Gesetz - ein Begünstigter durch die Staatssicherheit. Er hat das seltene Privileg genossen, dass er mit Unterstützung eines Stasi-Anwalts, des allseits bekannten Anwaltes Wolfgang Schnur, seine Kinder in den Westen reisen lassen konnte. Herr Gauck durfte erleben, dass seine Kinder, nachdem sie mit Unterstützung der Stasi ausreisen durften, auch wieder einreisen konnten. Vergleichbares gibt es nur selten. 

Also machen Sie ihm doch seine Vergangenheit zum Vorwurf?

Ich mache den Vorwurf, dass die Politik wie auch Gauck selbst mit zweierlei Maß messen. Es gibt Menschen, die hatten viel weniger Kontakte zur Staatssicherheit als Herr Gauck, haben aber im ersten Gespräch mit dem MfS - meist funktionsbedingt - eine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Sie hatten dann meist die Staatssicherheit nicht wie Herr Gauck unter fast konspirativen Bedingungen zu Hause, bei denen hat sich die Stasi auch nicht für die Zusammenarbeit bedankt. In der Verpflichtungserklärung stehen lediglich Dinge, die in der Rechtsordung der DDR sowieso verankert waren. Diese Menschen werden heute nach den entsprechenden Bescheiden aus der Gauck-Behörde ausgegrenzt. Der Widerspruch besteht darin, dass Gauck und andere trotz ihrer Zusammenarbeit mit dem MfS für geeignet gefunden werden, öffentliche Ämter zu bekleiden und dafür hohe staatliche Auszeichnungen bekamen. 

Klingt das nicht doch ein wenig nach offener Rechnung?

Das einzige Problem zwischen Herrn Gauck und mir ist der Umstand, das ich von Anfang an wusste, wer Herr Gauck ist. Aus meiner Ministerzeit kannte ich die Besonderheiten seiner Kontakte und wusste, das Herr Gauck im August 1990 - darüber habe ich eidesstattliche Versicherungen - in rechtswidriger Weise und gegen die Einsichtvorschriften gleich zweimal allein mit seiner Akte gewesen ist. Die war von Hauptmann Terpe einst vollständig übergeben worden und weist heute Lücken auf. Wer auch immer da manipuliert hat - Gauck hat Pech gehabt. Das Alleinsein mit seiner Akte gleicht einem Bordellbesuch: Keiner glaubt einem, dass man rein da raus kommt. Ob dieser Sachverhalt mit dem Begriff der offenen Rechnung richtig umrissen ist, wage ich zu bezweifeln. Versuchen wir es doch mal mit dem Begriff der Rechtstaatlichkeit oder mit Gerechtigkeit.

Ein bisschen spät. Oder?

Ich streite für einen anderen Umgang mit den Stasi-Akten nicht erst seit gestern. Interessant ist nur, dass man 10 Jahre nach der Einheit dem Diestel plötzlich zuhört und jetzt sogar öffentlich Recht gibt.

Welcher Umgang mit den Stasi-Akten stand vor 10 Jahren zur Diskussion?

Nach meiner Sicht stellt sich das so dar: Sowohl Helmut Kohl als auch Wolfgang Schäuble wie auch Eckhart Werthebach, damals Berater in der DDR-Regierungskommission zur Auflösung des MfS, waren bis in den Sommer 1990 der Auffassung, es handele sich in der Regel um rechtswidrig erworbenes Material, das nicht einfach so ausgewertet werden kann. Auch weil es zu diesem Zeitpunkt in höchstem Maße ausgedünnt war. Es gab völlige Übereinstimmung zu dieser Zeit, dass dieses Material mit äußerster Sorgfältigkeit ausschließlich zur Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung eingesetzt werden solle. Erst als man auf Seiten des Westens merkte, dass die Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung - also Unterlagen, die Personen und Vorgänge in den alten Ländern betreffen könnten - unwiderbringlich vernichtet sind und dass es maximal irgendwelche Verfilmungen geben kann, die vor deutschen Gerichten keine Beweiskraft haben, hat man sich entschlossen, das Stasi-Thema in den Wahlkampf einzubringen. 

Ist der Zeitpunkt Ihrer Forderung nach dem Ende der Stasi-Hysterie nicht dennoch etwas unglücklich gewählt - jetzt, da MfS-Protokolle möglicherweise mit Helmut Kohl auch einem der Väter der Einheit zu schaffen machen könnten?

Ich plädiere für eine Gleichbehandlung Ost-West, aber nicht für eine Gleichbehandlung im Unrecht. Ich weiß, dass die Ostdeutschen mit den Stasi-Akten unrecht behandelt werden - und ich weiß, dass man jetzt beabsichtigt, das gleiche bei den Westdeutschen fortzusetzen. Wenn ich gegen den rechtswidrigen Umgang mit derart zweifelhaften Materialien bin, muss ich dafür eintreten, dass Ost- wie Westdeutsche davor geschützt werden. Mit dieser Auffassung kann ich nicht den Giganten der Konservativen, Helmut Kohl, mit der bisher betriebenen Praxis noch schnell schlachten und erst dann zur Ordnung übergehen wollen.

Hat der Zeitpunkt der erneut von Ihnen entfachten Debatte über den Umgang mit Geheimdienstunterlagen mit den erst kürzlich im Kanzleramt übergebenen Disketten aus den USA zu tun? Stehen wir vor einer neuen Akten-Welle?

Das ist meiner Einschätzung nach eine Geheimdienst-Ente, um die Nachrichtendienste wieder wichtig zu machen. Die Amis haben nichts wirklich Bedeutsames. Das ist alles in der Zeit der Wende vernichtet worden - in der Stasi bereits seit Sommer 1989. Man kann wirklich sagen, dass Gauck nur das hat, was er kriegen sollte. Allerdings damals vom Westen nicht beachtet wurde die Tatsache, dass die Unterlagen der Funkaufklärung der Hauptabteilung 3, also die Mitschnitte von Politikern, Chefredakteuren und Künstlern, sämtlichst archiviert worden waren und damit allerhand Zündstoff bergen. Das habe ich 1990 sowohl Werthebach, als auch Schäuble und Kohl erklärt. In Übereinstimmung und im Vertrauen auf den Rechtsstaat haben alle meine Gesprächspartner auf die eindeutige Rechtslage im Grundgesetz gebaut - darauf, dass Derartiges nicht verwendet werden darf.

Das findet ja nach dem Willen der Fraktionschefs im Bundestag nicht statt.

Deren Beschluss ist mit dem Stasi-Unterlagengesetz nicht vereinbar. Unterlagen mit dem gleichen Rechtscharakter, die die Politiker gegen sich selbst nicht verwenden wollen, werden beim Amtsgericht in Neuruppin, Neubrandenburg oder anderswo gegen Lehrer, Polizisten oder Krankenschwestern angewendet, um diese Menschen zumindest beruflich aus der Bahn zu werfen. Genau auf diesen Dualismus mache ich aufmerksam.

Auch mit einer Klage?

Denkbar ist das, wichtiger ist jedoch das gesellschaftliche und vor allem das politische Verständnis für das Problem.

Warum geht es Peter-Michael Diestel eigentlich, wenn er so laut die Glocken läutet?

Ich möchte, dass sich die Erkenntnis in ganz Deutschland endlich durchsetzt, dass wir mit der Stasi-Verfolgungs- und Berufsverbotspraxis in eine Sackgasse geraten sind. Ich möchte, dass begriffen wird, dass Geheimdienstakten in der ganzen Welt verlogen sind, nie dem Maßstab der objektiven Wahrheit genügen und niemals zum Beweismittel in einem nur einigermaßen rechtstaatlichen Prozess taugen. Und vor allem möchte ich, dass geschehenes Unrecht im Osten rehabilitiert wird. Kurz: Ich fordere eine >Salzgitter-Behörde<< für ausgegrenzte Ossis.

Die sollte was machen?

Sofort alle den öffentlichen Dienst betreffenden Beschränkungen aufheben. Dann müssen die wegen Stasivorwurf entlassenen Leute wieder eingestellt werden. Dafür freilich muss ein neues Recht gemacht werden - oder wir geben diesen Rechtsstaat auf. Realität ist doch heute, dass unbestrittene Rechtsgrundsätze aufgegeben werden, nur um mit angenommenen ehemaligen Kommunisten Abrechnung zu halten. Auch wenn ich mit diesen nichts gemein habe, der Rechtsstaat ist ein zu hohes Gut und in seinen Grundsätzen zu wichtig, um ihn für eine billige Rache auszuhöhlen.

Und was wird aus der Gauck-Behörde?

Sofort zumachen - oder Leuten übertragen, die politisch weitsichtig, rechtlich firm, fachlich auf der Höhe der Anforderungen und unvoreingenommen sind. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der MfS-Hinterlassenschaft ist wichtig. Ohne Kenner der Materie wird sie gerade mit den Akten-Rudimenten schwer möglich sein. Wer Aufklärung tatsächlich will, sollte sich ihrer bedienen und sie nicht länger verunglimpfen und ausgrenzen.

 

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