Seite 2 · BILD · München, 2. Oktober 1995

 

5 Jahre Wiedervereinigung - was ist historische Gerechtigkeit? von DR. PETER GAUWEILER

 

,,Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund." Es schadet nicht, sich dieser Worte eines uralten Gebets zu erinnern, wenn es um Deutschland und den politischen zustand des deutschen Volkes geht.

Man lese die jüngste Veröffentlichung der Gauck-Behörde ,,Analysen und Dokumente" über neuerlich bekannt gewordene Systemverbrechen der DDR: Jeder, der zu den regierenden Ex-Kommunisten gehörte, wird sich einmal mehr fragen müssen, was haben wir uns und unserem Volk angetan?

Also sagen, wie es wirklich war und wie es nie wieder sein soll. Der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn hat den richtigen Weg ins Freie gewiesen: ,,Wenn ein Täter sagt, er bereue, dann läßt sich anders mit ihm reden.''

Unser morgiger Feiertag der Deutschen Einheit wäre ohne ein anderes Ereignis nicht möglich gewesen. Nämlich die Weltstunde des 9. November 1989, wo sich in der Folge einer sensationellen Bekanntmachung aus Ostberlin auf einmal alle im geteilten Land lachend und weinend in den Armen lagen. Um Mitternacht, da die Mauer geöffnet wurde. Es war der Sprecher des Politbüros der SED, Günter Schabowski, der diese schicksalhafte Entscheidung mit einigen Gesinnungsgenossen für alle überraschend durchgepaukt hatte. Und einer fassungslosen internationalen Öffentlichkeit um 18.57 Uhr auch gleich bekanntgab.

Dieser Paukenschlag bewirkte den endgültigen Einsturz des kommunistischen Weltsystems und führte - perfekt genutzt von Kanzler Kohl - schließlich dazu, daß die russischen Soldaten des Boris Jelzin 50 Jahre nach dem Krieg unser Land wieder verlassen haben. Abschiedslieder auf deutsch singend.

Günter Schabowski, neben der Politbüromitgliedschaft auch KP Chef von Ost-Berlin (wie einst Boris Jelzin von Moskau), hätte für seine Handlung, die Weltgeschichte machte, mehr als einen Orden verdient. Statt dessen ist er nun nach unserer Strafprozeßordnung angeklagt: Es unterlassen zu haben, früher auf eine Humanisierung des Grenzregimes hingewirkt zu haben. Also Totschlag durch Unterlassen. Dies, nachdem Mielke und Honecker davongekommen sind. Von ihren sowjetischen Gulag-Auftraggebern gar nicht zu reden. Das halte für jeweilig in Ordnung wer will - tatsächlich ist es eine Provokation für jede Gedanken historischer Gerechtigkeit.

Es war erst 1987, da die höchsten Würdenträger unserer heute so strafwütigen westdeutschen Justiz vor Schabowskis obersten Vorgesetzten den Kratzfuß gemacht und auf sein spezielles Wohl ihr Glas gehoben haben, Voller Stolz über das Dabeiseindürfen. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.

Mann muß es einmal es offen sagen: Die derzeitige Art und Weise justizförmiger Vergangenheitsbewältigung des kommunistischen Unrechts mit Zehntausenden Ermittlungsverfahren, ständigen Verfahrenspannen und dann zahllosen Verfahrenseinstellungen ist keine angemessene Antwort auf das fürchterliche und schicksalhafte Geschehene. Hier wird eine juristische ,,viertel Sache" ins Werk gesetzt, mit der niemand zufrieden sein kann.

Es gibt auch Größe und Tragik bei der Wertung des historisch Mißratenen. Letztlich waren auch die Angehörigen der kommunistischen Klasse der DDR, bei all ihrer persönlichen Verantwortung, keine Einzeltäter, Sondern Geschöpfe jenes europäischen Bürgerkriegs, an den im Deutschland des 20. Jahrhunderts Generationen verlorengegangen sind.

Der Gnade, welcher dieser Teil deutscher Zeitgenossen bedarf, bedürfen wir alle.