Der lange Weg zum Holocaust-Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich
von John Weiss
Die Originalausgabe:
Ideology of Death: Why the Holocaust Happened in Germany
by John Weiss 

Kurzbeschreibung
Der amerikanische Historiker John Weiss präsentiert eine umfassende und anschaulich erzählte Geschichte des deutschen und österreichischen Antisemitismus, der den Weg zum Holocaust geebnet hat. Der Autor schildert die Ursprünge des christlichen Judenhasses und erklärt, warum besonders die protestantischen und katholischen Kirchen in Deutschland und Österreich so willige Vorkämpfer des Antisemitismus waren und welche Rolle sie bei der Judenverfolgung und im Holocaust spielten.

Klappentext
John Weiss' anschauliche Geschichte des deutschen und österreichischen Antisemitismus füllt die Lücke, die Daniel Goldhagens Bestseller "Hitlers willige Vollstrecker" hinterlassen hat - eine differenzierte Beschreibung des verschlungenen Weges der Deutschen und Österreicher vom Rufmord zum Massenmord an den Juden.

Raul Hilberg, der weltweit wohl einflußreichste Holocaust-Forscher, urteilt über das Werk von John Weiss: "Für viele Leser wird... Lesen Sie mehr

From Publishers Weekly
How could one of the most "civilized" of Western nations kill millions of innocent people? Weiss (The Facist Tradition, 1967) rejects the claim of "No Hitler, no Holocaust." Instead, he argues that anti-Semitism was a strong trait in every class in Germany; the anti-Semitism of "tens of thousands" of upper-class Germans was not "all that different from that of the Nazis themselves." Weiss traces anti-Semitism in western Europe and shows why it was so strong in Germany. He demolishes the old argument that most Germans knew nothing about the mass murders and were shocked when they learned the truth. He suggests that if the masses truly did not know and were as horrified as they claimed, "an outburst of patriotic indignation and revulsion and unstoppable desire to punish the guilty would have been inevitable. The opposite occurred."...


Nur gegen die DDR wollen die "braven Deutschen" abrechnen. Hier ein paar Auszüge aus dem Buch "Der lange Weg zum Holocaust" von dem amerikanischen Historiker John Weiss der die Rolle der katholischen Kirche und insbesondere Martin Luthers Rolle als Vorkämpfer des Deutschen Judenhasses untersucht hat. [Bemerkungen im Rot von A.J.]


Die schuld der Katholischen Kirche:


...Gegen die rasante Ausbreitung der Reformation in Europa formierte sich als katholische Antwort die Gegenreformation. Als sich nun die Christen gegenseitig umbrachten, hatten auch die Restmitglieder der jüdischen Gemeinschaft wieder zu leiden. Die Juden waren inzwischen fast zu Vagabunden herabgesunken; sie suchten Schutz, wo immer sie ihn fanden, und wurden in die Ghettos getrieben, auf die sie fast zwei Jahrhunderte beschränkt bleiben sollten. Mitte des 16. Jahrhunderts herrschte Papst Paul IV. in Rom. Ganz im Gegensatz zu den Renaissancepäpsten war er ein frommer Reformer und Asket, und er stand den Juden entsprechend feindselig gegenüber. Die Reformation war für ihn eine jüdisch inspirierte Verschwörung zur Vernichtung des Vatikans und die Juden die Urheber der Sünde und des Protestantismus. Er setzte Gesetze aus dem Mittelalter wieder in Kraft, die seine Vorgänger weitgehend ignoriert hatten, und zwang die Juden in Italien fast ebenso elend zu leben wie ihre Glaubensbrüder im Norden. Er verbannte sie in Rom und dem restlichen Kirchenstaat aus zahlreichen Gewerben und Berufen, zerstörte ihre Synagogen, verbot ihnen, Land zu besitzen und zwang sie, Predigten zu ihrer Bekehrung anzuhören. Sie mußten den gelben Davidsstern und spezielle Kopfbedeckungen tragen, damit die Christen vor ihrer Anwesenheit gewarnt waren. Außerdem verbot der Papst den Talmud und die Feier der hohen jüdischen Feiertage und unterband den Verkauf von koscheren Nahrungsmitteln. Er rief die Inquisition wieder ins Leben und brachte sechzig bekehrte Juden auf den Scheiterhaufen, weil sie sich angeblich nur zum Schein bekehrt hatten. In Erfüllung einer Forderung, die Innozenz III. und das Laterankonzil von 1179 einst erhoben hatten, verbannte Paul IV. die Juden des Kirchenstaats in Ghettos und ermahnte alle christlichen Herrscher, das gleiche zu tun. Mit solchen Mitteln hoffte er »die Brüder Christi durch christliche Barmherzigkeit zurück zur Familie zu bringen«. Paul IV. war keineswegs der einzige, der solche Maßnahmen gegen die Juden ergriff. Im Lauf der Zeit wurden auch all die verstreuten jüdischen Gemeinden in Mitteleuropa in Ghettos gezwungen. Juden und Christen, verkündete Paul IV., sollten weder miteinander verkehren noch untereinander Ehen schließen, damit die Religionen rein blieben. Dies kam vielen jüdischen Rabbinern entgegen, die damals wie heute ebenfalls eine Assimilation der Juden vermeiden wollten. Auch war es wegen des durch die Religionskriege entfesselten Fanatismus durchaus vorteilhaft, in bewachten Stadtvierteln zu leben, deren Tore nachts geschlossen waren, insbesondere, wenn an Ostern gewalttätige Horden durch die Straßen zogen und auf Rache und Plünderung sannen. Kein Rabbi begrüßte jedoch die elenden Bedingungen der Ghettos in den deutschen Landen.

Die Ghettos in Mitteleuropa waren arm, überbevölkert und wurden immer wieder durch Feuersbrünste zerstört. Geldverleih, Pfandleihe und Trödelhandel waren die einzigen Tätigkeiten, die den dortigen Juden gesetzlich erlaubt waren. Da sie außerhalb der Ghettos keine Läden besitzen durften, wurden umherziehende jüdische Händler in den europäischen Städten zu einer alltäglichen Erscheinung. Während des ganzen 17. und 18. Jahrhunderts lebten die Juden Mitteleuropas hinter den Ghettomauern im Elend, isoliert und allen möglichen Sondersteuern unterworfen. Sie mußten den gelben Fleck tragen, waren nachts im Ghetto eingeschlossen, brauchten eine Sondergenehmigung, um sich in Gruppen in der Stadt aufzuhalten, und wagten nicht, auf dem Markt einzukaufen, bevor die Christen bedient waren. Sie hatten eine Kopfsteuer zu entrichten und mußten um freies Geleit betteln, wenn sie reisen wollten. Um die Zahl der Juden zu vermindern - nur die ökonomisch nützlichen waren erwünscht -, wurden Gewerbescheine und Genehmigungen für Ehen und Haushaltsgründungen nur in beschränkter Zahl ausgestellt und jüdische »Vermögen« mit einer hohen Sterbesteuer belastet. Da die Juden ihre Wohnungen im Ghetto nicht selbst besitzen durften, waren sie von christlichen Vermietern abhängig, die nicht zögerten, sie ohne Vorwarnung auf die Straße zu setzen, wenn sie eine plötzlich verkündete Mieterhöhung nicht bezahlen konnten...

...Die Entstehung Preußens begann 1198, als deutsche Adlige während des Dritten Kreuzzugs den Deutschen Orden gründeten und Keuschheit, Gehorsam und Armut gelobten, um besser für die Ausbreitung des Christentums kämpfen zu können. Der Hochmeister des Deutschen Ordens unterstellte sich und die Mitglieder seines Ordens Papst Innozenz III. Dieser bekannteste und militanteste Imperialist unter den Kreuzzugspäpsten, der als erster den Titel Stellvertreter Christi für sich in Anspruch nahm, sah in der Eroberung des Heiligen Landes lediglich den Beginn einer weltweiten christlichen Vorherrschaft. Er rief zu einem brutalen und blutigen Kreuzzug gegen die Albingenser in Frankreich auf, die als Ketzer galten, weil sie glaubten, daß Christus nur als Erscheinung, nicht jedoch in Wirklichkeit auf Erden gewandelt war. Wie ihre Feinde betonten, konnten sie diese Irrlehre nur von den arglistigen Juden gelernt haben. Wer sonst hätte die Bosheit und den Willen besessen, unschuldige Gläubige zur Leugnung der Wirklichkeit Christi zu verführen? Innozenz III. forderte als erster Papst, daß die Juden den Davidsstern trügen, und setzte auf dem Vierten Laterankonzil durch, daß dies Kirchenrecht wurde... 1  


Und welche rolle spielte Martin Luther?


Schon Johannes Chrysostomos hatte geschrieben, wer Jesus Christus grenzenlos liebe, dürfe sich auch in »der Schlacht gegen die, die Ihn hassen«, 3 keine Grenzen setzen. Luther jedoch sollte sie alle übertreffen...

Zunächst war Luther durchaus um die Juden bemüht. Er glaubte, die Juden würden sich mit Freuden bekehren, nachdem er die einzig wahre Bedeutung des Christentums enthüllt und die Irrtümer der römisch-katholischen Kirche aufgedeckt hatte. Er glaubte, sie würden nun endlich das Licht sehen, das die Bischöfe von Rom jahrhundertelang verdunkelt hatten. Die Juden hätten die dekadente und verderbte Lehre des päpstlichen »Antichrist« und seiner Handlanger - dieser »Narren« und »groben Eselsköpfe« - zu Recht abgelehnt. Er schrieb: »Und wenn ich ein Jude gewesen wäre... so wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ.« Nachdem es der etablierten Christenheit nicht gelungen sei, die Juden zu bekehren, behandle sie sie, »als wären es Hunde und nicht Menschen« und beschuldige sie fälschlicherweise des Ritualmords, der Vergiftung von Christen und der Teufelsanbeterei. Als Strafe für diese angeblichen Verbrechen habe die Kirche die Juden aus allen ehrenhaften Berufen verbannt, so daß sie nun vom Wucher leben müßten, wofür sie obendrein auch noch verdammt würden. 1 

Luther war überzeugt, daß sich die Juden rasch bekehren würden - eine falsche Hoffnung. Jahrtausendelang hatten die Identität, die Kultur und der Alltag der Juden auf dem jüdischen Glauben beruht. Dieser Glaube hatte selbst die Schrecken der Kreuzzüge überlebt. Wie konnte man nun von ihnen erwarten, daß sie ihre eigene, ältere Religion aufgeben würden, nur weil wieder einmal in Wichtigtuer behauptete, Christus sie ihr Messias?...

...Die katholische Führung hatte sich gegen Massenmorde an Juden gewandt, Luther jedoch, der Wegbereiter einer neuen Variante des Christentums, die sich rasch in Deutschland verbreitete, mochte die jahrhundertelange Tradition doktrinärer Ausflüchte im Interesse des sozialen Friedens nicht mehr dulden. In Briefen und Streitschriften beschimpfte er die Juden in einer brutalen Gossensprache, derer sich bis dahin nur jene Demagogen bedient hatten, die während der ersten Kreuzzüge die Judenmassaker inszenierten: Der Teufel sei der Gott der Juden. Christus hat keinen »bittereren, giftigeren, heftigeren Feind... als einen rechten Juden, der mit Ernst Jude sein will«. Die Juden sind buchstäblich »Teufelskinder«, »giftige, bittere, raubgierige, hämische« Feinde Christi und der Christen. 3 All die alten Mythen wurden mit einer Schärfe fortgesponnen, die sich seit dem 5. Jahrhundert kein katholischer Kirchenführer mehr erlaubt hatte. Man gestatte den Juden, in Frieden unter den Christen zu leben, schrieb Luther, und diese revanchierten sich durch Wucher und Brunnenvergiftung und indem sie bei ihren satanischen Ritualen christliche Kinder ermordeten. Sie wagten es sogar, Christus als Sohn einer Hure und eines römischen Soldaten zu beschimpfen. Luther spricht mit der Stimme der mordenden Kreuzfahrer. Er, der behauptete, seinen Glauben allein auf die Heilige Schrift zu gründen, hätte dort keinerlei Rechtfertigung für seine obszönen Tiraden finden können, und er versuchte es auch nicht.

Luther stellte sogar die mordgierigen Haufen der Kreuzfahrer noch in den Schatten, denn sie hatten wenigstens die Alternative Bekehrung oder Tod geboten. Luther dagegen erklärte, ein Jude könne niemals bekehrt werden, genausowenig wie der Teufel, dem die Juden so eifrig dienten. Es sei schon gefährlich, mit diesen satanischen Juden auch nur über religiöse Angelegenheiten zu diskutieren. Für Luther reichte es aus, sie an ihre Geschichte seit der Zerstörung des Tempels zu erinnern, dies genügte ihm als Beweis, wie sehr Gott ihre verfluchte Rasse haßte. Luther schrieb, er würde einen Juden nicht einmal taufen, wenn dieser ihn darum bäte, sondern ihn wie eine giftige Schlange ersäufen. »Ich kann die Juden nicht bekehren; unser Herr Jesus Christus hat es auch nicht vermocht. Aber ich kann ihnen ihren Schnabel schließen, so daß ihnen nichts anderes übrigbleibt, als auf dem Boden ausgestreckt bleiben zu müssen4  Er hätte kaum deutlicher sein können; der Tod war seine persönliche Endlösung der »Judenfrage«.

Luthers letzte Predigt im Jahr 1546 war dem Hochmut und der Hartnäckigkeit des Judentums gewidmet, dem fleischgewordenen Antichrist, der durch seine heimtückischen wirtschaftlichen Aktivitäten die Herrschaft in Deutschland errungen hatte. Im Jahr 1543 hatte er seine berühmte und vielzitierte Schrift Von den Juden und ihren Lügen veröffentlicht, ein übles Traktat, in dem er die Juden beschuldigte, die Weltherrschaft erringen zu wollen. Sie seien »eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück«. Die deutschen Fürsten sollten das Judentum verbieten, den Besitz der Juden zerstören, den Rabbinern bei Todesstrafe verbieten, weiterhin zu lehren, die Schulen, Synagogen und Häuser der Juden niederbrennen, ihre Vermögen beschlagnahmen, ihre Gebetsbücher und den Talmud vernichten und sie entweder »wie die tollen Hunde ausjagen« oder sie alle »unter ein... Dach« stecken. Die Fürsten von Sachsen, Brandenburg und Schlesien folgten seinem Rat und vertrieben die Juden. Luther nahm die Argumentation der Rassisten des 19. Jahrhunderts vorweg, die - ohne sich dabei so stark der Metaphern von Schmutz und Exkrementen zu bedienen - ebenfalls die Ansicht vertraten, daß die Juden aufgrund ihres Blutes weder assimilierbar noch bekehrbar seien.

Luther war schlicht ein Rassist; es kümmerte ihn wenig, daß sein Judenhaß mit dem Erlösungsversprechen Christi nicht vereinbar war. Ein Jude war für ihn einfach kein Mensch, sondern aufgrund seiner Rasse nicht mehr zu retten - so haben später auch die mit den Nazis verbündeten protestantischen »Deutschen Christen« argumentiert. Luther sah den Teufel buchstäblich auf Erden wandeln; er schrieb, er habe ihn selbst gesehen und häufig seine abscheuliche Stimme gehört. Einmal gestand er sogar, in Zeiten innerer Qual bisweilen nicht mehr zwischen der Macht Gottes und der des Teufels unterscheiden zu können, besonders wenn er über die Handlungen von Satans Volk nachdächte. Psychologen haben Luthers Teufelsbesessenheit als eine seltsame Eigenheit gedeutet, doch er teilte sie mit Millionen von Zeitgenossen. Der Glaube an die irdische Existenz des Teufels war bis zum Zweiten Weltkrieg bei Millionen von Bauern in Mittel- und Osteuropa weit verbreitet, die eine Vielfalt christlich-faschistischer Gruppen unterstützten.

Auch Luthers Antisemitismus war keine persönliche Eigenart. Die Ausbreitung des Protestantismus in Deutschland war von einer Flut judenfeindlicher Pamphlete und Plakate begleitet, in denen häufig Luthers bösartige Angriffe kunstvoll aufbereitet waren. »Studien« schilderten die obszönen Praktiken der Juden in Synagogen und bei rituellen Bädern, ihre abscheuliche Neigung, christliches Blut zu trinken, ihre Fähigkeit, sich in Schlangen und Dämonen zu verwandeln, ihre heimlichen Verbrechen und Laster und ihr bizarres Verhalten, was Sex und Stuhlgang betraf. Bezeichnenderweise wurden die bösen und dämonischen Eigenschaften der Juden häufig nicht ihrer Ablehnung des Christentums, sondern der inhärenten und unwandelbaren Eigenschaft ihres Blutes zugeschrieben. Luther mag für solche Schriften das wichtigste Vorbild gewesen sein, doch er brachte einen tief empfundenen Volksglauben zum Ausdruck, für den es anderswo in Europa keine Entsprechung gab. Er sprach für die Millionen von Bauern und ländlichen Handwerkern, die in der ganzen neuzeitlichen Geschichte Deutschlands das Rückgrat populistischer und rassistischer sozialer Bewegungen bilden sollten, jener Bewegungen, die schließlich den Nationalsozialismus unterstützten. Schon zu Lebzeiten Luthers gab es eine Vielzahl von populären Schriften und simplen Bildergeschichten, die Luther als Heiligen, als Johannes den Täufer oder als Moses darstellten, der sein Volk aus der Wildnis führt, die durch die römisch-katholische Kirche und die üblen Machenschaften der Juden gewuchert war.

In England und Frankreich lebten im 16. Jahrhundert nur noch wenige Juden. In Frankreich hatten vor allem die kalvinistischen Hugenotten, die den Juden freundlich gesinnt waren, mit der Feindschaft der katholischen Kirche zu kämpfen. Die Juden wurden in beiden Ländern eher als Symbol als eine akute Bedrohung wahrgenommen. Claude de Montfort, der populärste französische Geistliche des Jahrhunderts, griff zwar die Juden für ihre Schuld am Tod Christi an, betonte jedoch, daß auch die Christen seit dem Sündenfall unter der Ursünde standen. In England, der Schweiz und Schottland sowie in den Kolonien, aus denen später die Vereinigten Staaten entstanden, brach mit der Ausbreitung verschiedener Spielarten des Kalvinismus die aus der Zeit der Kreuzzüge stammende Tradition der gewalttätigen Judenhetze ab. Nach lutherischen Maßstäben standen Kalvinisten und Puritaner dem Judentum und den Juden äußerst wohlwollend gegenüber. Tatsächlich war Martin Luther der einziger wichtige protestantische Reformator, für den die Juden unrettbar verderbt waren...

...Für die Kalvinisten hatte Gott beschlossen, wer zu den wenigen Erretteten gehörte, und es waren wirklich nur wenige...

...Die Prädestinationslehre schwächt die Judenfeindschaft und verringert das psychologische Bedürfnis, das Christentum durch die Bekehrung der Juden zu bestätigen. Calvin schenkte der jüdischen Ablehnung Christi in seinen Schriften überraschend wenig Beachtung; für die Kalvinisten blieb die Bekehrung der Juden wirklich Gott überlassen, wie auch die Errettung aller übrigen Menschen...

Anders als Frankreich und England des 16. und 17. Jahrhunderts war die »Judenfrage« in den deutschen Landen heftig umstritten. Für soziale Mißstände wurden hier vor allem die Juden verantwortlich gemacht, eine Tradition, die bis zum Nationalsozialismus ungebrochen fortdauerte. Wie so vielen Antisemiten nach ihm, waren Handel und Stadtleben nach Luther moralisch suspekt und galten ihm als »jüdisch«. Wahre Deutsche führten ein einfaches Leben auf dem Land...


Und wie sieht es in Bayern aus?


Im Jahr 1633 wütete die Pest im bayrischen Dorf Oberammergau. Die Dorfbewohner hielten die Seuche für eine Strafe Gottes und gelobten, zur Buße alle zehn Jahre ein Passionsspiel zum Gedenken an die Auferstehung Jesu aufzuführen. Das Spiel wird bis heute aufgeführt und stellt, obwohl es nach dem Zweiten Weltkrieg umgeschrieben wurde, noch immer eine verzerrte Version des Neuen Testaments dar. Diese Entstellung der Heiligen Schrift resultiert aus dem zwanghaften Bedürfnis, die Juden als willige Werkzeuge des Teufels zu präsentieren und sie in ihrer Gesamtheit für den Tod Christi verantwortlich zu machen. Hitler war von dem Spiel begeistert: Es sei von größter Bedeutung, das Passionsspiel in Oberammergau weiterhin aufzuführen, denn nirgends werde die Bedrohung durch die Juden so überzeugend dargestellt. 2 Die Nazis schätzten das Spiel als »reichswichtiges« Ereignis der Volkskultur. Zum dreihundertjährigen Jubiläum im Jahr 1934 besuchten hohe Nazifunktionäre die Vorstellung und sahen zu, wie Jesus und seine Jünger in heldenhafte Arier verwandelt und von semitischen Dämonen gequält wurden, die den widerlichsten antisemitischen Stereotypen entsprachen.


Und wie verhielt sich Kaiser Wilhelm II? ...Trotzdem haben die meisten deutschen Historiker bis vor kurzem noch behauptet, er sei kein Antisemit gewesen!


Die Rassisten glaubten im Kaiser endlich den Führer gefunden zu haben, der die Juden strafen würde. Als Kronprinz hatte er sich öffentlich für Stoecker ausgesprochen und ihn bei Hofe meistens in Schutz genommen. Später freute er sich über das schreckliche Pogrom von Kischinew und verkündete, als die verfolgten Juden von Rußland nach Deutschland flohen: »Hinaus mit diesen Schweinen!« 28 Als er erfuhr, daß russische Soldaten mit den Verfolgern zusammengearbeitet hatten, sagte er: »Alle deutschen Männer und vor allem die deutschen Frauen denken das gleiche.« 29 Und als Theodor Herzl ihn aufforderte sich beim türkischen Sultan für die Gründung eines jüdischen Staates einzusetzen, schrieb er auf die Petition, er wäre glücklich, wenn er alle Juden in Deutschland loswürde. Er versprach, »den jüdischen Einfluß von Armee und Verwaltung mit aller Entschiedenheit auszuschließen und in allen Betätigungen der Kunst und Literatur nach Möglichkeit einzuschränken«. 30 Häufig sprach er von einem künftigen Rassenkrieg der Arier gegen die Juden, und als man ihn über die Russische Revolution von 1905 informierte, schrie er: »Immer sind es die Juden!« und glaubte: »Das wird hier auch eintreffen.« 31 Mehrmals äußerte er gegenüber Höflingen, wenn ein Krieg ausbreche, müsse es ein Blutbad unter Juden und Sozialisten geben.

Im Jahr 1901 wurde der Kaiser mit Houston Stewart Chamberlain, dem bekanntesten rassistischen Intellektuellen seiner Zeit, bekannt gemacht. Er war von Chamberlain fasziniert und es begann ein ausführlicher Briefwechsel. Chamberlains Schriften, schrieb er, hätten all die angestauten arisch-deutschen Gefühle in seiner Seele freigesetzt und ihm die weltumspannende Bedeutung des Kampfes enthüllt den die Teutonen zur Rettung der Deutschen und der gesamten Menschheit gegen Rom und Jerusalem führten. Beide Männer waren sich darin einig, daß Jesus ein Arier gewesen sein mußte und seinem Willen ein von allen jüdischen Spuren gesäubertes germanisches Christentum entsprochen hätte. Der Kaiser pries Chamberlain, weil er die göttliche Bestimmung der Rasse, den Osten zu erobern, enthüllt hatte. Gott habe Chamberlain zu seinem Verbündeten bestimmt, und er werde ihm ewig dafür danken. Chamberlain sei sein Waffenbruder und Bundesgenosse im Kampf der Teutonen gegen Rom, Jerusalem usw. Das Gefühl, daß sie für eine absolut heilige Sache kämpften, werde ihnen den Sieg bringen. Chamberlain antwortete, Deutschland müsse die moralische Ordnung der Menschheit retten, denn ohne die Hohenzollern und die teutonische Rasse werde die Welt dem seelenlosen Materialismus der Juden gehören. Die Deutschen müßten sich vereinigen, die Massendemokratie abschaffen und ihr Schicksal erfüllen, denn Gott baue allein auf die Deutschen, um das ätzende Gift des Judaismus zu zerstören und die Welt zu erlösen. 32

Doch der Kaiser konnte nicht einmal Deutschland retten. Als der Krieg kam, erlaubten ihm seine Generäle nicht einmal, eine Kompanie zu befehligen. Man verkündete zwar der Öffentlichkeit, er habe in der Schlacht von Verdun das Kommando geführt, in Wirklichkeit jedoch wurde er nie konsultiert und meistens nicht einmal informiert. Die Generäle machten sich hinter seinem Rücken über ihn lustig, während sie so taten, als hätten sie wichtige Angelegenheiten mit ihm zu klären, oder sie nahmen ihn auf sorgfältig organisierte Rundreisen mit und präsentierten ihn als Oberbefehlshaber, vermutlich um die Moral im Feld und an der Heimatfront zu heben. Zu seinen Gunsten sei vermerkt, daß er, als er die Folgen eines besonders mörderischen Gefechts besichtigte, wie betäubt und völlig sprachlos war, vielleicht, weil ihm die wirkliche Bedeutung seiner kriegerischen Phantasien damals endlich klar wurde. Am Ende fand er eine neue Berufung als Holzhacker im niederländischen Exil. Doch er änderte sich nie. Im Krieg forderte er die Ermordung aller russischen Kriegsgefangenen; bei Kriegsende machte er die Juden für die Niederlage verantwortlich. Er unterstützte die Nazis und gestattete seinen Söhnen, für Hitler Wahlkampf zu machen. Über die Juden schrieb er 1919, kein Deutscher solle ruhen, »bis diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind«. 33 Noch im Jahr 1941, kurz vor seinem Tod, frohlockte er über die antisemitischen Maßnahmen der Nazis. Trotzdem haben die meisten deutschen Historiker bis vor kurzem noch behauptet, er sei kein Antisemit gewesen!


Und wie dachten Hegel, Kant, Schopenhauer und Fichte?


In einem Zornesausbruch, was bei dem eher besonnenen Beobachter der Weltgeschichte selten vorkam, schrieb Hegel:

»Der Geist erkennt nur den Geist; sie [die Juden] sahen in Jesus nur den Menschen ... er war nur einer wie sie, und sie selbst fühlten, daß sie Nichts waren. Am Haufen der Juden mußte sein Versuch scheitern, ihnen das Bewußtsein von etwas Göttlichem zu geben; denn der Glaube an etwas Göttliches, an etwas Großes kann nicht im Kote wohnen.«3

Der Antijudaismus in der deutschen Philosophie entsprang einer theologischen Sichtweise der Geschichte. Die Philosophen der Aufklärung hatten wenig Interesse an der Vergangenheit, abgesehen von der Suche nach historischen Persönlichkeiten oder Epochen, die sie für ihre Vorläufer hielten. Sonst beschränkte sich Geschichte auf die Schilderung der blutigen Fürstentyrannei oder des priesterlichen Obskurantismus. Folglich beruhte ihre Kritik an der Politik auf der Vorstellung eines »Naturzustandes«, zu dem der Mensch gelange, indem er von den Fehlern der Vergangenheit befreit werde, um ihn so zu sehen, wie er wirklich sei. Doch die deutschen Idealisten glaubten, daß die westliche Zivilisation einer vorherbestimmten göttlichen Entwicklung folge. Hegel glaubte, die Geschichte sei das Fortschreiten des absoluten Geistes durch die Zeit. Folglich gab es auch keine festen und unveräußerlichen Menschenrechte. Die Rechte und die Pflichten der Menschen wurden von der Geschichte und dem Wesen seiner jeweiligen ethnischen Gruppe bestimmt, die sich in deren Institutionen, Bräuchen und sittlichen Werten widerspiegelten. Das Judentum war somit das Produkt einer frühen und primitiven Sittenlehre und Geschichte, die erste und unvollkommenste Offenbarung des göttlichen Geistes, wie er sich im Laufe der Zeit nach und nach enthüllte. Kein Gerede von der Gleichheit aller Menschen konnte die Juden in sittlicher Hinsicht mit den deutschen Völkern gleichstellen. Ihre historische Entscheidung gegen Christus war von ihrem Wesen vorherbestimmt. Es konnte keine unveräußerlichen Rechte für alle geben; die Juden zu befreien würde eine sittliche Gefahr bedeuten.

 

Die deutschen Idealisten lehnten die Ansicht vieler Philosophen ab nach der die Vorstellungen und der Charakter eines Menschen von seinem sozialen Umfeld geprägt würden. Die Christen seien frei in ihrer Entscheidung für das Gute oder das Böse; sie seien nicht einfach eine »tabula rasa«, die von persönlichen Erfahrungen beschrieben würde wie Locke gemeint hatte. Der Körper des Menschen müsse den Gesetzen der Physik gehorchen, doch seine Seele sei frei. Als junger Seminarist war Fichte zutiefst bedrückt über die kaltherzige Argumentation der Aufklärung, durch die der Mensch zu einem Objekt reduziert wurde, ohne sittliche Entscheidung und angeborenen ethischen Idealismus. Fichte ging davon aus, daß nicht die Gesellschaft die Menschen prägt, sondern diese schaffen eine geistige Ordnung aus ihren eigenen inneren Quellen. Dieser bewundernswerte Glaube an die sittliche Freiheit der Menschen sprach auf den ersten Blick dafür, sich gegenseitig zu achten auf der Grundlage freier, sittlicher Entscheidungen. Die deutschen Idealisten hingegen gingen davon aus, daß sich der angeborene »Volksgeist« eines jeden Volkes in seiner Geschichte zeige und kamen folglich zu dem Schluß, daß die Berufe der Juden im Ghetto die Folge ihres angeborenen Geistes seien. Selbst der gemäßigte Kant war der Ansicht, Juden seien von Natur betrügerische Kaufleute, die von ihrem Aberglauben zusammengehalten würden. Ihr unmoralisches und schändliches Gebaren in Geschäft und Handel zeige, daß sie »keine bürgerliche Ehre suchten«, denn der »Wuchergeist« herrsche unter ihnen, unter einer »Nation von Betrügern«, die von der »Uberlistung des Volkes, unter dem sie Schutz finde«, profitiere.4 Die Gesellschaft mag der besonderen Begabungen der Juden bedürfen, schrieb Hegel, doch sie könnten nicht wirklich assimiliert werden da ihr Materialismus und ihre Habgier »lediglich eine animalische Existenz erlaubt, die auf Kosten des Nächsten gewährleistet werden kann«.5

Napoleons kosmopolitischen Auffassungen seien absurd, bemerkte Hegel. Es könnten nicht alle Völker dieselbe Verfassung haben, da sie von deren sittlicher Entwicklungsstufe abhänge. Fichte hielt das deutsche Volk für überlegen, da es sich bereitwillig für das Allgemeinwohl opfere, im Gegensatz zu den französischen Individualisten und jüdischen Materialisten. Die Juden aber könnten sich nicht ändern: »Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei.«6

Fichte hielt den jüdischen Geist für ebenso zerstörerisch und unverbesserlich wie spätere Antisemiten das jüdische Blut. Auch Kant ging davon aus, daß der »angeborne, natürliche Charakter« der Völker und Rassen seinen Ursprung »in der Blutmischung der Menschen« habe.7 Den Juden sollten die Bürgerrechte verweigert werden. Schopenhauer war der Ansicht, die Juden müßten vom Staatsdienst ausgeschlossen werden, denn sie besäßen keinen Nationalgeist. Fichte wollte sie alle samt aus Deutschland vertreiben.

 

Johann Gottlieb Fichte war der Philosoph des nationalen Befreiungskrieges gegen Napoleon, er versuchte als erster, den schlummern den deutschen Geist wachzurütteln und zu seiner sittlichen Berufung, der Schaffung einer neuen Nation, zu führen. Im Jahr 1808, zu einer Zeit, als französische Soldaten Berlin besetzt hatten, hielt er eine Reihe von Reden an die deutsche Nation. Fichte schimpfte das alte Preußen einen Kasernenstaat, dessen Herrscher die französische Kultur und Sprache vorzögen, und sprach mehrfach davon, diese Herrscher könnten nie die sittlichen Kräfte einer neuen Generation ansprechen. Die Niederlage müsse die Deutschen wachrütteln, damit sie eine vereinte Nation gründeten, die der deutschen Ideale wert sei. Eine Gesetzgebung nach französischem Vorbild sei fremdartig; sie würde das reine innere Wesen des deutschen Geistes zerstören, das Deutschland seit Luther erfaßt habe. Mit der Reformation habe Luther die sittliche Lehre Christi von dem katholischen Ritualismus befreit und Christi Werk gegen die primitive jüdische Religion vollendet. Wie unzählige Deutsche nach ihm, konnte schon Fichte nicht glauben, daß Jesus Jude war; der Begründer der größten sittlichen Revolution der Geschichte konnte nicht einem so elenden Volk entstammen. Wie spätere Rassisten war Fichte überzeugt, der Apostel Paulus habe die reine Botschaft Christi mit jüdischem Aberglauben verfälscht, weil er einen Bruch mit der jüdischen Religion gefürchtet habe. Die Reformation habe diese Überbleibsel des Ritualismus beseitigt, führte Fichte an, weil lediglich die deutschen Völker die volle Bedeutung des Christentums erfassen könnten. Auch nach der Taufe könnten Juden niemals Deutsche sein. Sie würden immer alle ihre Undeutschen Eigenschaften behalten: kosmopolitisch, seelenlos, unfähig, an einer sittlichen Gesellschaftsordnung teilzunehmen. »Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht... es ist das Judentum.« Die Juden könnten keiner anderen Nation gegenüber loyal sein. »Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.«10

Mit der wichtigen Ausnahme der Slawen und Juden hielt Fichte alle Europäer für blutsverwandt. Doch die Deutschen waren für ihn das einzige Volk, das sich den uralten Geist bewahrt hatte, unverdorben von fremden Einflüssen. Während die Franzosen eine lateinische Sprache angenommen hätten, hätten die Deutschen ihre ursprüngliche Sprache behalten und damit die geistigen Qualitäten als das »Urvolk« bewahrt. Immer noch eng mit der Lebensweise ihrer kriegerischen Vorfahren verbunden, seien die Deutschen frei vom lateinischen, französischen und jüdischen Individualismus, von ihrer Habgier und dem bloßen Streben nach materiellem Wohlstand. Sie allein, so Fichte, würden noch empfinden wie die alten germanischen Stämme: Pflichten und Rechte würden sich aus der Unterordnung unter den Volkswillen ergeben.

Um den deutschen Geist zu schützen, drängte Fichte deutsche Politiker, die Produktion und den Verbrauch zu kontrollieren, damit das räuberische Abenteurertum internationaler Unternehmer und Spekulanten beendet werde, die vom Glauben an ein Wirtschaftswachstum besessen seien. Eine wirtschaftliche Autarkie würde verhindern, daß diese Mächte Deutschland mit Importartikeln überfluteten, welche die alten Handwerkszünfte zugrunde richten und das korrumpierende Verlangen nach Waren wecken würden, die dem Volksgeist fremd seien. In ähnlicher Weise sollten die deutsche Sprache, die Kunst und die Kultur, die Früchte des jahrhundertealten teutonischen Bewußtseins, von fremden Einflüssen befreit werden. Fichte lehnte demokratische Repräsentationsorgane ab und befürwortete den korporativen Staat, wie er später von Konservativen (und italienischen Faschisten) genannt wurde: eine politische Repräsentation durch das Handwerk, die Gilden und körperschaftlichen Vereinigungen, nicht durch die Masse anonymer Wähler. In erster Linie forderte Fichte ein neues Schulwesen, um die Jugend vor der sittlichen Verseuchung durch fremdartige Gedanken zu bewahren und den teutonischen Geist zu pflegen. Wenn die Deutschen einmal geistig vereint seien, müsse sich Deutschland bis zu seinen »natürlichen Grenzen« ausdehnen und alle Deutschen in einem Großdeutschland vereinen. In Fichtes Vision von einem Deutschland hatten die Juden keinen Platz. Wegen ähnlicher Ansichten liefen rechte Intellektuelle in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Scharen zu den Nationalsozialisten über.

Als erster Rektor der 1810 neugegründeten Universität Berlin förderte Fichte eine Institution, die sich ausdrücklich der Schaffung eines neuen deutschen Nationalbewußtseins widmete. Mit flammenden Reden rekrutierten Fichte und Schleiermacher, der Dekan der theologischen Fakultät, Studenten als Freiwillige zum Militärdienst im Kampf gegen Napoleon. Die Jugend erfüllte ein idealistischer Opfergeist, der für die Errichtung eines vereinten Deutschland vonnöten war. In den Berliner Hörsälen hoben Fichte und seine Kollegen die ethnischen und religiösen Unterschiede unter den Völkern hervor und die Überlegenheit der germanischen Volksseele. Die Feindseligkeit gegenüber den Juden nahm zu. In anderen Ländern waren Nationalisten wie Giuseppe Mazzini der Ansicht, daß jedes Volk spezifische Merkmale trüge, die der ganzen Menschheit zugute kämen; Fichtes Thesen waren jedoch schwülstiger und aggressiver: In seinen Reden an die deutsche Nation sagte er, die Deutschen seien von allen Völkern dasjenige, das am eindeutigsten den Keim der menschlichen Vollkommenheit besitze und dem die Führungsrolle der Menschheit gebühre.11


Die Französischen Philosophen dachten anderes...


Rousseau bedauerte, daß der Glaube der Juden nur in einer verzerrten christlichen Version bekannt sei. Er sprach sich nachdrücklich gegen ihre Verfolgung aus und forderte, daß sie ihre Position in der christlich-jüdischen Debatte frei vertreten dürften.

Voltaire, ein entschiedener Gegner sowohl des Christentums als auch des Judaismus, war berühmt für seine Verteidigung der Gewissensfreiheit und seinen Protest gegen die religiösen Verfolgungen seiner Zeit. Dennoch war er ein übler Antisemit. Sein Werk ist von wüsten Tiraden gegen betrügerische Wucherer, diebische Geldverleiher, den »Abschaum der Menschheit« durchsetzt. Und er glaubte, daß diese Züge angeboren waren. Trotzdem forderte er eine Beendigung der Judenverfolgung. Er war deshalb ein Antisemit, weil er die progressivste Ansicht der anderen philosophes nicht teilte. Er glaubte nicht, daß die Eigenschaften eines Volkes das Ergebnis seiner historischen und sozialen Erfahrungen sind.

Die französischen Aufklärer aber verwarfen den traditionellen Glauben an angeborene Ideen und unveränderliche Charaktereigen- schaften und stellten die Frage: Wie sonst wird der menschliche Geist erfüllt? Für Locke war der Geist bei der Geburt eine unbeschriebene Tafel und wurde durch die Erfahrung beschrieben. Auf dieser Grundlage studierte eine Generation von Denkern die Wechselwirkung zwischen geistiger Erfahrung, sozialem Verhalten und moralischen Werten. Sie alle waren fasziniert von neuen Untersuchungen, die zu erforschen suchten, wie ein Kleinkind lernt, die Welt wahrzunehmen. Die radikalsten bestanden darauf, daß sämtliche Handlungen und Weltanschauungen von äußeren Einflüssen verursacht waren - das Selbst war nichts als die Summe aller Eindrücke, die es gewonnen hatte.

Solche Untersuchungen waren im wahrsten Sinne des Wortes revolutionär. Wenn nämlich der menschliche Charakter nicht die Folge angeborener Eigenschaften war, dann hatte auch der entsprechende Glaube, überkommene Institutionen, Sitten und Standeseigenschaften seien gottgewollt, seine Grundlage verloren. Solche Ideen waren gefährlich. Diderot wurde für kurze Zeit ins Gefängnis geworfen, nur weil er in einer seiner Schriften darüber spekuliert hatte, welche häretischen, moralischen und religiösen Ideen ein Blinder aufgrund seiner Wahrnehmungsbeschränkung entwickeln könnte. Condillac sah selbst die Geisteskraft nur als Produkt von Erfahrung und Bildung. In dem Bestreben, die überkommenen Ideen des Ancien regime zu widerlegen, behaupteten die philosophes, alle Menschen seien bei der Geburt gleich. Bauern, Kaufleute, Aristokraten, Könige, ja sogar Juden hatten keine Eigenschaften oder Fähigkeiten, die auf gottgewollten oder unveränderlichen Merkmalen beruht hätten. Condorcet empfahl Massenbildung, um die Menschheit allmählich zu vervollkommnen; für Cesare Beccaria war kriminelles Verhalten das Ergebnis sozialer Bedingungen; Phillippe Pinel meinte. Geisteskranke seien nicht etwa vom Teufel besessen, sondern könnten durch menschliche Rehabilitationsmaßnahmen geheilt werden. In seinem höchst populären Buch Diskurs über den Geist des Menschen führte Claude Adrien Helvetius den Charakter, die Fähigkeiten und die Leistungen eines Menschen auf seinen Stand, seine familiäre Erziehung und seine formale Bildung zurück. Er forderte, die Gesellschaft so zu verändern, daß alle die gleichen Chancen zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten hätten. Das Buch wurde vom Papst verdammt, vom Klerus verbrannt und war ständigen Angriffen der staatlichen Zensur ausgesetzt.

Den philosophes kam es darauf an, eine soziale Umwelt und ein Bildungswesen zu schaffen, in denen ein begabtes und tugendhaftes Volk gedeihen konnte, und sie wollten dies durch den Abbau der künstlichen Klassenschranken und religiösen Barrieren in der französischen Gesellschaft erreichen. Wie üblich war es Rousseau, der den Gedanken zu seinem logischen Abschluß brachte: Die Bildung mußte vernünftige Menschen schaffen, die für das Leben in einer vernünftigen und gerechten Gesellschaft geeignet waren. Da die Gesellschaft deformiert war, empfahl Rousseau, die Kinder zu isolieren, damit sie nicht durch Erfahrung lernten, parasitäre Aristokraten zu verehren und ehrliche Handarbeiter zu verachten. Die Jugendlichen sollten erkennen, daß die religiösen Mythen eben nur Mythen waren, und erst von der Existenz Gottes erfahren, wenn sie alt genug waren, den Unterschied zwischen Aberglauben und Wissenschaft zu begreifen, und klug genug, die zerstörerische Blindheit religiöser Verfolgungen zu verabscheuen.

Die neue Geisteswissenschaft erwies sich als eine mächtige Kraft im Kampf gegen die Isolation und Verfolgung der Juden. Der Geldverleih und Trödelhandel der Juden war nach Ansicht fast aller französischen Aufklärer eine Folge sozialer Unterdrückung durch Christen. Nach der Befreiung von staatlichen Berufsverboten würden die Juden sich in allen Berufen assimilieren. Montesquieu vertrat in seinem berühmten Werk Vom Geist der Gesetze die Ansicht, Regierungen und Menschen würden von den historischen Verhältnissen geprägt. Er forderte, die Beschränkung der jüdischen Bürgerrechte aufzuheben. Condorcet und Buffon, die großen französischen Naturalisten, weigerten sich zu glauben, daß die Juden (oder die Schwarzen) von Natur aus minderwertig seien. Rousseau betonte, die Juden könnten keine Rasse sein, gerade weil sie unter alle Völker zerstreut seien und sich mit diesen im Lauf der Jahrhunderte durch Heirat vermischt hätten...

 

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Hier aus Der lange Weg zum Holocaust - Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich zum Download Kapital 5. DIE ANFÄNGE DES NATIONALISMUS IN DEUTSCHLAND und Kapital 6. ANTISEMITISMUS IN DER BISMARCK-ÄRA