junge Welt
Sonnabend/Sonntag, 14./15. Oktober
2000, Nr. 240, Seite 10,
Thema:
Strasbourg und die Mauer
Menschenrechte und Systemwechsel. Von Friedrich Wolff
Man sagt Strasbourg und meint (in der Regel) den Europäischen Gerichtshof, weniger häufig den Europarat. So wie man Karlsruhe sagt und das Bundesverfassungsgericht meint. Umgekehrt ist es etwas schwieriger. Wer Europäischer Gerichtshof sagt, denkt häufiger an Luxemburg als an Strasbourg. Es gibt nämlich zwei Europäische Gerichtshöfe. Der in Strasbourg trägt den Zusatz »für Menschenrechte«, der Luxemburger kommt ohne Zusatz aus. Das mag einen Grund haben. Dem will ich nicht nachgehen, hier soll ausschließlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Rede sein.
Der EGMR ist ein Organ des Europarats – nicht der Europäischen Union. Ihm liegt ein völkerrechtlicher Vertrag, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), zugrunde. 41 Staaten haben sie jetzt unterschrieben, und jeder dieser Staaten kann einen Richter für den Gerichtshof benennen. Die EMRK wurde 1950 abgeschlossen, die DDR und die anderen Staaten des Warschauer Vertrages waren ihr nicht beigetreten. Der Gerichtshof entscheidet über die Beschwerden von Vertragsstaaten gegen einen anderen Vertragsstaat und über Individualbeschwerden, d.h. über Beschwerden eines Bürgers gegen seinen eigenen Staat. Das ist unser Thema.
Der EGMR ist keine »Superrevisionsinstanz«. Das kann man überall lesen, und so ist es auch. Aber revidieren kann er trotzdem. Die Grenzziehung zwischen dem, was er kann oder nicht kann, ist eines seiner Probleme. Klar ist, er kann nur über angebliche Verletzungen der in der Konvention niedergelegten Menschenrechte urteilen, also z.B. über die Meinungsfreiheit, das Recht auf Leben, das Eigentum. Nicht urteilen kann er z.B. darüber, ob ein Gericht die Tat eines Angeklagten richtig festgestellt, d.h. die Beweise richtig gewürdigt hat. Er kann aber feststellen, daß das Menschenrecht auf ein faires Verfahren, das jeder Angeklagte in einem der Staaten der Konvention hat, verletzt worden ist, woraus sich dann ergibt oder ergeben kann, daß das Urteil falsch ist.
Kompetenz des Gerichts
Es ist nicht einfach, die Aufgaben und Möglichkeiten des EGMR zu bestimmen. Nehmen wir, um zum Thema zu kommen, den Fall des Grenzsoldaten, der an der Mauer entsprechend den bis 1990 geltenden Gesetzen der DDR einen Flüchtling getötet hat. Hat er ein faires Verfahren, wenn über seine Pflichten und über deren etwaige Verletzungen nur Richter entscheiden, die nie Bürger der DDR gewesen sind? Für mich ist die Antwort klar. Ich vergleiche die Lage mit einem Sportwettkampf zwischen zwei Nationen, in dem der Schiedsrichter von einer der Parteien gestellt wird.
Ein weiteres Problem lautet: Kann der Gerichtshof feststellen, das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK wurde durch die Verurteilung des Grenzsoldaten verletzt, wenn deutsche Gerichte festgestellt haben, die Tat war schon zur Tatzeit in der DDR strafbar? Das bedeutet in der Konsequenz, das Rückwirkungsverbot war nicht verletzt. Eben das haben die deutschen Gerichte in sehr langen Begründungen festgestellt. Kann Strasbourg das also nach der Konvention überprüfen, oder ist es dazu nicht befugt? Ist es nicht ausschließlich Angelegenheit der deutschen Gerichte festzustellen, was deutsches Recht ist oder war? Für mich ist die Antwort auch hier klar. Ich denke mir, die ganze Konvention könnte zu einem leeren Versprechen gemacht werden, wenn es so wäre, daß jeder Staat sagen könnte, das, was wir heute bestrafen, war schon zur Tatzeit strafbar. – Nur, Richter haben eine andere Optik als Anwälte.
Verfahren dauern
Medien melden, Krenz klagt in Strasbourg und die Verhandlung findet am 8. November 2000 statt. Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Zunächst, wer Strasbourg anruft, um sein vermeintliches Recht zu erhalten, ist kein Kläger, er ist überhaupt keine Partei des Verfahrens. Er wird Antragsteller oder Beschwerdeführer genannt, aber Partei ist er dennoch nicht. Das ist eine Formsache. Doch Formen haben Bedeutung. Schon bei den Nibelungen löste die Frage, wer zuerst durch die Tür gehen darf, ein Blutbad aus. Krenz ist also Beschwerdeführer, und Deutschland ist Partei, nicht Partei schlechthin, sondern Hohe Vertragschließende Partei. Alles nur Formsache.
Am 8. November 2000 wird auch nicht nur über die Beschwerde des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, sondern gleichfalls über die von Generaloberst a.D. Fritz Streletz, von Verteidigungsminister a.D. Heinz Keßler und über die des Grenzsoldaten H.J. Winkler verhandelt. Streletz hat seine Beschwerde am 26.11.1996 eingelegt und das Aktenzeichen mit der Nummer 34044/96, Keßler folgte ihm mit der Nummer 35532/97. H.J. Winkler erhob 1997 mit der Nummer 37201/97 und Egon Krenz am 1.11.1998 mit der Nummer 44801/98 Beschwerde. Der Gerichtshof hat alle vier Beschwerden zu einem Verfahren verbunden.
Die Nummern der Aktenzeichen zeigen die Arbeitsbelastung des EGMR. Seine durchschnittliche Bearbeitungszeit betrug sechs Jahre. Da die Beschwerdeführer vorher alle nationalen Gerichte angerufen haben mußten, in Deutschland also auch das Bundesverfassungsgericht, bei dem die Bearbeitungszeit auch nach Jahren bemessen wird, ist das Verfahren insgesamt sehr lang, obgleich Art. 6 FMRK sagt, daß jeder Mensch das Recht hat, daß seine Sache in angemessener Zeit gehört, also abgeurteilt wird. Streletz und Keßler sind z. B. am 12. Mai 1992 angeklagt und am 16.9.93 vom Landgericht Berlin verurteilt worden. Am 26.7.1994 wurde über ihre Revision und die der Staatsanwaltschaft vom BGH entschieden und am 24.10.1996 entschied das Bundesverfassungsgericht. Danach erst konnten die Verurteilten innerhalb von sechs Monaten, gerechnet von der Zustellung des schriftlichen Urteils, Strasbourg anrufen. Für Streletz und Keßler liegen also achteinhalb Jahre zwischen der Anklageerhebung und dem Verhandlungstag in Strasbourg, der noch nicht der Tag der Urteilsverkündung sein wird. Sie haben ihre Strafen bis zu ihrer Entlassung auf Bewährung verbüßt.
Überlastet
Ein anderes Beispiel: Als ein Sonderausschuß der Volkskammer Hermann Axen im September 1990 in einem summarischen Verfahren, ohne persönliche mündliche Anhörung, seine gesamten Ersparnisse, die zugleich sein gesamtes Vermögen darstellten, wegnahm, klagte ich für ihn im gleichen Jahr beim Verwaltungsgericht, erhielt am 24. Mai 1993 das erste Urteil, das die Klage abwies. Auf meine Berufung hob das Oberverwaltungsgericht Berlin am 1.7.1997 das erstinstanzliche Urteil auf und gab der Klage in vollem Umfang statt. Das Urteil stärkte meinen Glauben an den Rechtsstaat über jedes Maß. Doch die Bundesrepublik Deutschland wendete sich an das Bundesverwaltungsgericht, und das stellte fest, daß entgegen der Rechtsmittelbelehrung des Verwaltungsgerichts und der Berufungsentscheidung die Berufung gesetzlich nicht zulässig gewesen wäre. Damit blieb es bei der Klageabweisung. – Recht ist genauso kompliziert wie die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Deswegen scherzen Juristen: »Auf hoher See und vor Gericht ist der Mensch in Gottes Hand.«
Die Zurückweisung meiner Beschwerde durch das Bundesverfassungsgericht erfolgte am 11.8.1999. Jetzt warte ich mit den Erben des inzwischen verstorbenen Hermann Axen auf die Entscheidung des EGMR über meine Beschwerde wegen Verletzung des in der Konvention verbrieften Eigentumsrechts. Immerhin haben die Erben Hermann Axens noch eine hohe Lebenserwartung.
Der EGMR ist überlastet. Es wurde deswegen seit etwa 1982 eine Reform seiner Organisation diskutiert, die ursprünglich, d. h. seit 1953, eine Menschenrechtskommission zur Vorprüfung der Beschwerden, den Gerichtshof selbst und letztlich ein Ministerkomitee vorsah. Der Gerichtshof tagte nicht permanent. 1994 wurde die Reform beschlossen, die im November 1998 in Kraft trat. Die Kommission entfiel, der Gerichtshof tagt nunmehr permanent, das Ministerkomitee blieb mit veränderter Zuständigkeit, die für unseren Fall jedoch nicht bedeutsam ist.
Die Richter des Gerichtshofs – je einer pro Mitgliedsstaat der Konvention (jetzt 41) – werden von ihren Staaten benannt. Sie sind unabhängig und werden auf fünf Jahre gewählt. Der Gerichtshof tagt in Kammern, die jeweils mit sieben Richtern besetzt sind. Die Kammer entscheidet erst, nachdem die Beschwerde eine Vorprüfung durch einen Ausschuß von drei Richtern bestanden hat. Die Kammer kann danach jedoch selbst die Beschwerde noch für unzulässig erklären oder sie wegen der Bedeutung oder aus anderen Gründen an die Große Kammer des EGMR, die aus 17 Richtern besteht, überweisen. Diesen Weg haben die vier Beschwerden hinter sich. Auch die Große Kammer kann die Beschwerden noch für unzulässig und natürlich auch für unbegründet erklären.
Die Zahl der Menschenrechtsbeschwerden ist erheblich gestiegen, von 404 im Jahre 1981 auf 2037 im Jahre 1993. Man erwartet, daß die Zahl der Beschwerden »überproportional zur Bevölkerungszahl der neuen Mitgliedsstaaten ansteigen wird«.
Der EGMR ist nach dem Muster europäischer Verfassungsgerichte, wohl nicht zuletzt nach dem Muster des deutschen Bundesverfassungsgerichts, aufgebaut. Die deutsche Justiz genießt in Europa und in Strasbourg ein hohes Ansehen. Wie in Deutschland überlegt man auch im Europarat, was man tun kann, um die Verfahren angesichts der zu erwartenden weiter wachsenden Zahl der Beschwerden zu beschleunigen. Das ist ein Trost, der aber wohl mehr künftige als gegenwärtige Beschwerdeführer erreicht.
Rückwirkend strafbar?
Fast verborgen hinter den vielen rein juristischen Problemen stehen Fragen von eminenter aktueller politischer, oder sagen wir sachlicher Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hat einen für die Mauerfälle relevanten Teilaspekt des gesamten Problemkreises behandelt. Es hat gesagt: »Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG findet – wie dargelegt – seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. Diese besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hatte, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtete. Hierdurch setzte der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur so lange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht.« (BVerfGE 95, 133)
Ohne Umschweife gesagt, das Menschenrecht ist systemabhängig. Ein Staat kann feststellen, er sei ein Rechtsstaat und der Staat vor ihm sei ein Unrechtsstaat gewesen – und der Bürger des untergegangenen Staates hat sein Menschenrecht verloren. Das ist so bisher wohl nicht gesehen worden, denn ein Menschenrecht wie das Rückwirkungsverbot existiert wenigstens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, das weniger von der Existenz von Rechts- als von Unrechtsstaaten geprägt war, und die Justiz der BRD hatte keine Skrupel, dieses Menschenrecht auch NS-Tätern zukommen zu lassen. In der Menschenrechtskonvention von 1950 hat sie dies ausdrücklich geltend gemacht.
Die Begrenzung des Rückwirkungsverbots hat praktische Folgen. DDR-Richter, -Staatsanwälte und -Grenzer spüren das. Wenn Strasbourg jetzt so entscheidet, wie es die BRD will, wird das weitere Folgen haben, auch über Europa hinaus. Ich denke an Nord- und Südkorea, an China und Taiwan, an die Türkei, den Iran usw. Das Menschenrecht wird so in ein »Staatsrecht« verwandelt. Es zählt nicht der Mensch und sein Schicksal, sondern die Staatspolitik. So hatte das Feuerbach in seinem Lehrbuch von 1826 wohl nicht gesehen, aber wenn man will, kann man es so sehen.
Die Entwicklung der Menschenrechte ist seit dem Ende des 2. Weltkriegs weiter fortgeführt worden. Sie hat in der ideologischen Auseinandersetzung der beiden Systeme eine erhebliche Rolle gespielt. Die Westmächte pochten auf die sogenannten politischen Menschenrechte, zu denen auch das Rückwirkungsverbot zählt, und die Ostmächte auf die sozialen Menschenrechte, wie z.B. das Recht auf Arbeit. Seit dem Verschwinden der europäischen sozialistischen Länder hört man von den sozialen Menschenrechten so gut wie nichts mehr, dafür umso mehr von den politischen Menschenrechten, aus denen man im Jugoslawienkrieg auch das Recht zur Bombardierung ableitete. Keine Chinareise von Politikern ohne entsprechende Belehrung. Davon, daß bestimmte Menschenrechte, wie das Rückwirkungsverbot, dort nicht gelten sollen, ist allerdings nicht die Rede. Recht und Politik sind hier wohl untrennbar miteinander verbunden, und die Politik dominiert. Strasbourg wird das alles und noch mehr bedenken.
Zu den Erfolgsaussichten
Was die Große Kammer des EGMR entscheiden wird, wage ich nicht vorherzusagen. Von 100 Beschwerdeführern haben sechs Erfolg.
Herr Oberstaatsanwalt Jahntz sagte im zweiten Politbüroprozeß auf meinen Antrag, das Verfahren bis zur Entscheidung von Strasbourg auszusetzen, ich würde mir doch wohl nicht einbilden, daß Strasbourg die ganze deutsche Rechtsprechung auf diesem Gebiet umstößt. Ob man einer solchen Einbildung anhängt oder nicht, ist Glaubensfrage. Wer an den Rechtsstaat glaubt, müßte mindestens an eine solche Möglichkeit glauben. Ich bin nicht gläubig und stehe insoweit der Jahntzschen Prognose nicht verständnislos gegenüber. Ich finde nur das Bekenntnis von Jahntz zum Primat der Politik in diesen Rechtsfragen bemerkenswert. Andererseits lasse ich mich auch gern eines Besseren belehren. Immerhin hat unser heutiger Bundeskanzler, als er noch Rechtsanwalt war, den Prozeß Voigt gegen die BRD, in dem es um den »Berufsverbote-Erlaß« ging, in Strasbourg gewonnen, und dieses Urteil stieß auch die ganze deutsche Rechtsprechung um. Das hat Jahntz nicht berücksichtigt. Mir dagegen macht es Mut. Andererseits lagen die Entscheidungen der 4. Kammer des EGMR über die Beschwerden von Rentnern, die wegen ihrer wirklichen oder vermeintlichen Systemnähe um einen erheblichen Teil ihrer erworbenen Rentenansprüche gebracht worden sind, ganz auf der Jahntzschen Linie. Das mag Jahntz, Gauck und den Ihrigen Mut machen. Es ist wie oft im Leben und besonders im Recht, die einen sagen so, und die anderen sagen so. Das letzte Wort hat der Gerichtshof.
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